Im Bereich der forensischen Wissenschaften stolpert man immer wieder über den Begriff der “Chain of Custody”. Auch im Rahmen der EDV-Beweissicherung/IT-Forensik wird dieser Begriff immer wieder verwendet.
Diesbezüglich ist zunächst festzuhalten, dass der Begriff aus dem anglo-amerikanischen Rechtssystem stammt. Chain of Custody bedeutet in etwa “Kette des Gewahrsams” oder “Gewahrsamskette”. Gemeint ist also die Präsentation der einzelnen Beweismittel gegenüber dem Gericht in der Weise, dass die Authentizität (also Echtheit im Sinne von “als Original befunden”) des übermittelten Beweismaterials für das Gericht plausibel wird. Mit anderen Worten, die CoC soll sicherstellen, dass dem Gericht nur der “originale” Beweis präsentiert wird und keinerlei Verfälschung stattgefunden hat in dem z.B. echte Beweismittel “gepflanzt” worden sind oder sogar falsche Beweismittel geschaffen worden sind.
Der Gedanke und der dahinter stehende Vorgang ist eigentlich simpel. Die Chain of Custody setzt voraus, dass von dem Zeitpunkt an, in dem ein Beweisstück sichergestellt wird, jede weitere Übermittlung des Beweisstücks von Mensch zu Mensch dokumentiert werden muss. Es muss beweisbar sein, dass niemand (unberechtigt oder auch nur unbemerkt) auf das Beweismittel zugegriffen haben kann und Manipulationen vorgenommen haben könnte.
Jede Transaktion, beginnend mit der Sicherstellung der Beweisstücke bis zur endgültigen Vorlage im Gerichtssaal vor Gericht, sollte vollständig und chronologisch dokumentiert werden. Gleichzeitig sollten die Bedingungen und genauen Orte unter denen das Beweismittel gefunden wurde, eingesammelt wurde, verpackt wurde, transportiert, gelagert und eventuell untersucht wurde, dokumentiert werden. Jede Übergabe des Beweismittels an eine andere Person (z.B. PHK A >> KHK B >> Asservatenstelle Polizei >> Asservatenstelle StA >> StA X >> Gerichtswachtmeister Y) muss zudem mit einem Übergapeprotokoll dokumentiert werden, welches von den beteiligten Personen zu unterschreiben ist.
Das anglo-amerikanische Recht legt sehr viel Wert auf die Chain-of-Custody. Kann die Gewahrsamskette nicht lückenlos dargelegt werden, weil z.B. Unterschriften auf den Übergabeformularen fehlen oder fehlen solche Protokolle insgesamt, so kann die Verteidigung die Nicht-Zulassung des Beweismittels beantragen.
Das deutsche Recht kennt derart strikte Beweisregeln (leider) nicht. Obwohl auch die deutschen Strafverfolgungsbehörden Übergabeprotokolle ausfüllen, wenn Asservate – also Beweismaterial – übergeben werden, so wird der Dokumentation der Chain-of-Custody nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Regelmäßig fehlen Unterschriften auf den Übergabeprotokollen, die Bezeichnung der Gegenstände ist oft ungenau oder pauschal. Dieser Umstand ist überaus bedauerlich, da in der Praxis Gerichte die Möglichkeit einer – bewussten oder unbewussten – Beweismittelverfälschung regelmäßig überhaupt nicht in Betracht ziehen. Und selbst wenn die Verteidigung Möglichkeiten einer Verfälschung aufzeigt, beeindruckt dies die Gerichte im Regelfall nicht. Auch wenn die Gewahrsamskette Lücken aufweist, so kann sich das Gericht im Rahmen freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO) dennoch davon überzeugen, dass das Beweismittel authentisch ist, oft mit dem Bemerken, die Verteidigung habe wohl zuviel Fernsehen geschaut oder leide unter paranoiden Vorstellungen. Das Vertrauen der Gerichte in die Ermittlungsbehörden scheint dabei oft grenzenlos. Auch wenn ein Beamter ein paar Unterschriften vergessen hat, wird die Beweissicherung doch schon in Ordnung gewesen sein, schließlich ist der Mann doch Polizeibeamter …
Dabei wird natürlich übersehen, dass die Verteidigung selten mehr als die Möglichkeit einer Verfälschung der Beweismittel aufzeigen kann. Zugleich wird der Verteidigung – und damit letztlich dem Angeklagten – auferlegt, den Nachweis für eine Manipulation oder Verfälschung zu erbringen. Dieser Zustand ist mit dem Verständis eines Rechtsstaates nicht in Einklang zu bringen! Denn wenn eine Möglichkeit der Beweismittelverfälschung – mag sie auch noch so fernliegend sein – überhaupt erst durch unsaubere Dokumentation auf Seite der Ermittlungsbehörden geschaffen wird, dann ist de lege ferenda in solchen Fällen ein (unselbständiges) Beweisverwertungsverbot zu konstituieren. Erst wenn dies der Fall ist, wird Schlamperei der Ermittlungsbehörden wirksam vorgebeugt, das Beweisverwertungsverbot würde gleichzeitig, unmittelbar und wirksam der Qualitätssicherung der Arbeit der Ermittlungsbehörden dienen.
Dass eine Qualitätssicherung angebracht ist, da auch Polizeibeamte und Staatsanwälte nicht unfehlbar sind, wird nicht zuletzt an einem pressewirksamen Beispiel in einem der wohl spektakulärsten ungeklärten Mordfälle in der Geschichte der Bundesrepublik deutlich. So titelten die Lübecker Nachrichten am 7.10.2011:
Der Umgang der Lübecker Staatsanwaltschaft mit Beweisstücken im Barschel-Fall weitet sich zum Justiz-Skandal aus. Erst ging es nur um ein verschwundenes Haar. Gestern wurde bekannt, dass der Barschel-Chefermittler und ehemalige Leiter der Lübecker Staatsanwaltschaft, Heinrich Wille, eines der Beweisstücke einfach mit zu sich nach Hause genommen hat.